Samstag, 2. Februar 2013

eine.präsentation - 12.02.13 Freien Waldorfschule Darmstadt


Über die Entstehung des „Circo dos Sonhos“ - „Circus der Träume“ - in der Favela Monte Azul

Sonja Lindenkreuz und Jonas Friedrich berichten am Dienstag, den 12. Februar 2013 um 11:45h in der Freien Waldorfschule Darmstadt. 

Eine herzliche Einladung an Sie. 



Mittwoch, 3. Oktober 2012

abschlussbericht.bmz

Der folgende Text stellt den Abschlussbericht meines westwärts-Jahres für das BMZ dar und fasst den Aufbau des circusprojekt.saopaulo, sowie persönliche Eindrücke knapp zusammen:



Abschlussbericht
weltwärts-Jahr 09/2011 - 09/2012
Jonas Friedrich
Circusprojekt São Paulo
Assoçiação Comunitária Monte Azul
Sao Paulo, Brasilien



1.) Einblick in die Tätigkeit und das Leben in meiner Einrichtung.
Von September 2011 bis September 2012 habe ich mit zwei guten Freuden ein Circusprojekt in der Favela Monte Azul in
Sao Paulo, Brasilien, aufgebaut. Dieses Circusprojekt fand mit der Hilfe und als Teil der NGO Assoçiação Comunitária
Monte Azul statt. Jene NGO wird vom BMZ und den Freuden der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. mit der Sendung
von welwärts-Freiwilligen unterstützt. Wir waren drei dieser Freiwilligen.
Zusätzlich zu dem Aufbau eines Spenderkreises, der zu Unterstützung der Kosten der Freunde der Erziehungskunst Rudolf
Steiners e.V. aufgebaut werden musste, habe meine zwei Freunde und ich einen hohen weiteren Spendenbetrag aquiriet,
um unser Circusprojekt vor Ort finanzieren zu können.
Im September 2011, angekommen in Brasilien, haben wir in den ersten vier Wochen die Arbeit der Assoçiação
Comunitária Monte Azul kennengelernt, indem wir täglich einen anderen Teilbereich der riesigen Einrichtung besuchten.
Zudem begannen wir Portugiesisch zu lernen und das Land und die Menschen - den Lärm, den Streit, den Schmutz, aber
auch die Lebensfreude und Offenherzigkeit kennen zu lernen.
Gleichzeitig kümmerten wir uns um den Import von Circusrequisiten aus Deutschland und kauften einen Teil dieser vor
Ort ein.
Nach fünf Wochen entwickelten wir den in enger Kommunikation mit dem Management der Einrichtung wie wir
unser Projekt beginnen möchten. Wir begannen sofort mit ca. 220 Kindern wöchentlich zu Arbeiten. Die Arbeit fand
in zwei verschiedenen Favelas (Armenvierteln) statt. Dabei offerierten wir allen Kindern, die die Vormittags- bzw.
Nachmittagsbetreuung der Assoçiação besuchten einmal pro Woche eine Stude Circusaktivitäten zu erlernen.
Nach acht Wochen, in der Vorweihnachtszeit entschlossen wir uns die Arbeit in einer Favela zugunsten einer intensiveren
und konzentrierteren Arbeit mit weniger Kindern in der anderen Favela einzustellen und organisierten zum Abschied eine
kleine “Menschenpyramiden-Aufführung” mit den Kindern.
Die Zeitspanne zwischen Weihnachten und Karneval im Februar, die kulturell bedingt in Brasilien sehr gemächlich und
geradezu “unproduktiv” verläuft, nutzten wir um ein Ferienlager mit Favelakindern durchzuführen, die mit der Einrichtung
zunächsteinmal nichts zu tun hatten. Am Ende der wohl aufreibensten Woche meines Lebens konnten unsere neuen
Schützlinge dann doch eine wunderschöne kleine Circusaufführung ihren Eltern und der Öffentlichkeit vorstellen.
Infolge begannen wir zwei mal pro Woche genau mit diesen Favelakindern zu arbeiten, die nicht schon von der Einrichtung
durch eine Vor- oder Nachmittagsbetreuung betreut wurden. Es waren Kinder denen wir am frühen Abend zwischen
17h und 20h anboten Circusaktivitäten zu erlernen und sie damit von den Strassen holten und ihnen eine sinnvolle
selbstbewusstsein schaffende Aktivität fern von Gewalt, Alkohol, Drogen und Streit anboten.
Unser Arbeitsplan war also aufgeteilt in zwei Abende Arbeit direkt in der Favela und zwei volle Tage Arbeit mit Kindern
aus den Vor- und Nachmittagsbetreuungen der Assoçiação. Mit letzteren arbeiteten wir auch in einer differenzierten Art
und Weise. Wir luden zunächst alle Kinder ein, machten Ihnen aber deutlich dass nur diejenigen bleiben dürfen, die sich an
unsere Regeln halten und damit ihr weitgreifendes Interesse an unseren Circusstunden demonstrieren. Somit entstand mit
der Zeit eine Gruppe von 25 Kindern, mit welchen wir letztendlich eine wunderschöne Cirucusaufführung auf die Beine
stellten, die sich “Na Selva”, “Im Regenwald” nannte.
In folge dessen setzten wir uns als letztes Ziel unseres Freiwilligendienstes eine Circusaufführung mit den Kindern direkt
aus aus der Favela, die wir abends betreuten, zu kreieren und sie auf eine kleine Reise in ein anderes Umfeld mitzunehmen,
um dort ein Aufführung zu gestalten. Wir kämpften für diesen Traum und er wurde war. Mit dem Theater-Circusprogramm
“O pequeno Sonhador”, “Der kleine Träumer”, gestalteten unsere Kinder und wir letztendlich zwei Aufführungen in
Monte Azul und daraufhin zwei weitere in Botucatu einem kleinen Städtchen im Hinterland von São Paulo.


2.) Welche Phasen haben Sie durchlebt?
Zusätzlich zu der prozesshaften Veränderung und Anpassung unserer Arbeit an die in der Favela herrschenden
Bedingungen und die Arbeit der Einrichtung, welche ich versucht habe im oberen Abschnitt anzureißen, gab es natürlich
auch für mich persönlich verschiedene Phasen in diesem Jahr.
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass unser Circusprojekt von meinen Freunden und mir fast vollkommen autark
geführt wurde und wir somit eine große Verantwortung bei großer Umsetzungsfreiheit hatten. Jene Verantwortung hat
mich das Jahr sehr ernst nehmen lassen und ich habe nie mit dem Gedanken gespielt nachhause zu gehen. Auch Heimweih
war nie zu bekämpfen gewesen.
Das freiwillige Jahr für mich sehr intensiv! Das kennenlernen der fröhlichen Festkultur der Brasilianer, der Offenheit, der
Kurzlebigkeit, der Emotionalität und vieles mehr haben stark in mir gewühlt.
Die sozialen Kontraste der Megastadt Sao Paulo mit zu erleben hat mich stark ernüchtert. Täglich bin ich in die Favela
gelaufen und habe mit Kindern gearbeitet, die sich mit Geschwistern eine Stockbettmatratze teilen und in einem duklen,
dreckigen Zimmer zu sechst Leben. Gleichzeitig habe ich andere Brasilianer kennengelernt, die wenige Kilometer weiter in
einem Hochaus mit westlichem Luxus leben und von der Realität der Favelas nichts wissen wollen.
Die ersten sechs bis acht Wochen in Brasilien ging es mir sehr gut. Alles war neu, alles war interessant. Die darauffolgende
Zeit bis Weihnachten fiel mir schwerer, da die Sprache noch nicht so gut funktionierte und weil es mir schwer fiel
Menschen zu finden die auf meiner Wellenlänge sind, mit welchen ich mich “tief” unterhalten konnte. Im nachhinein
bemerke ich, dass dies auch damit zu tun hatte, dass ich die Kultur noch nicht so gut kannte und damit auch die “Schönheit
der Dinge aus brasilianische Sicht” noch nicht verstehen konnte.
Das Frühjahr und der Sommer waren toll. Ich habe viele für mich prägende Bekanntschaften geschlossen und auch die
Arbeit in unserem Circusprojekt wurde immer ausgefeilter und erfolgreicher.
Die letzten zwei Monate waren aufgrund eines Urlaubs mit meinen Eltern und er sehr intensiven Arbeitszeit an unserer
letzten Aufführung mit den Kindern sehr erfolgreich und schön, aber ich hatte die Verbindung zu meinem brasilianische
Umfeld etwas verloren, was mich traurig stimmte.


3.) Wie hast du dich verändert und welche anderen Perspektiven hast du gewonnen?
Ich empfinde das vergangene Jahr als ein praktisches Pädagogikstudium. Ich habe vieles in Bezug Erziehung und Umgang
mit Menschen gelernt. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Geduld. In der Arbeit mit Kindern, die praktisch auf der Strasse
zwischen, Streit, Alkohol und Drogen aufwachsen und keine Erziehung von ihrem Elternhaus mitbringen, war unendliche
Geduld zum friedlichen Durchsetzten von Regeln die Grundlage.
Mich inspirierte die wahrhafte Zusammenarbeit in der Assoçiação Comunitária Monte Azul, die sehr niedrigen,
indifferenten Löhne, und dabei der unendliche, selbstlose soziale Einsatz der Mitarbeiter für die Welt.
Zudem habe ich durch verschiedene wundervolle Menschen eine neue Art Emotionalität in mir gefunden, habe mein
Interesse für Musik und Kunst weiter gestärkt. Ich schätzte mehr als je zuvor unseren Reichtum hier in Deutschland und
erlebte in mir Gleichzeitig das Gefühl wachsen, dass ich mit diesem Reichtum verantwortungbewusster umgehen möchte.
Ich bemerkte ich lebe in Deutschland in einem Reichtum den man zu schätzen verliert und zudem in einem Reichtum, der
andere Menschen auf der Welt benachteiligt, letztendlich ihnen ihren Reichtum entzieht. Daran möchte ich arbeiten.


4.) Was nimmst du aus dem Jahr mit? Was ist dein Fazit?
Dankbarkeit für die wunderschönen Begegnungen und für die Offenheit des brasilianischen Volks.
Dankbarkeit für einen offenen Kulturellen Austausch und für viele unerwartete Geschenke.
Den Impuls zu Geben und zu Teilen und nur im Team zu arbeiten.
Für mich persönlich war dieses Jahr wundervoll und ich bin froh darüber, dass ich mir den Ort Sao Paulo sehr intuitiv
ausgewählt habe und mich im vorraus wenig informiert habe. Ich finde die Stadt hochgradig hässlich, geradezu lebens- und
menschenfeindlich. Einfach wäre es gewesen an einem der brasilianischen Strände mit Kindern Circus zu machen. In der
Peripherie von Sao Paulo zu arbeiten und zu leben war eine richtige Herrausforderung und wahrscheinlich auch der Ort, wo
es die Kinder am meisten gebrauchen können.
Danke dem deutschen Volk und dem BMZ für die finanzielle Grundversorgung.
Danke den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. für die Organisation und für ihren vielseitigen weltweiten
Einsatz.
Danke der Assoçiação Comunitária Monte Azul für offenen Arme, unendliches Vertrauen in uns “wilde Ausländer”. Danke
meiner Familie für feinfühlige und für mich sehr wichtige Unterstützung.
Danke euch lieben Freunden und Menschen in meinem Umfeld, die mein Leben lebenswert, ja wunderschön machen.
Danke!


Gezeichnet,
Jonas Friedrich, 03. Oktober 2012, Darmstadt

Freitag, 14. September 2012

gluecklich.vollendet

Seit zwei Wochen ist unser weltwaerts-Jahr nun schon zu ende und wir drei sind an unterschiedlichen Orten im Norden von Brasilien am reisen und erleben, um uns zu unserem gemeinsamen Rueckflug am 28. September 2012 in Recife wieder zu treffen. 

Die letzten beiden Wochen in Monte Azul waren unglaublich voll. Sie waren von Organisatorischem fuer den Projektabschluss und die Uebergabe an diejenigen, die es nun weiterfuehren werden, Finanzen klaeren, Requisiten aufraeumen und vieles mehr gepraegt. Gleichzeitig waren es aber auch vorerst unsere letzten beiden Wochen mit unseren acht Circuskindern, die uns doch sehr ans Herz gewachsen sind. Wir hatten schon seit einiger Zeit den Wunsch uns in irgendeiner Form dafuer zu engagieren, dass unser Einsatz auch die Zukunft hinein wirken kann. Schon seit Laengerem machte mich das Gefuehl traurig, dass wir nun nach Deutschland zurueckkehren und die Kinder in der Favela zuruecklassen, wo es fuer sie schwer sein wird sich herauszuarbeiten, nicht schon mit 15 das erste Kind zu zeugen und dann bei den Reichen der Stadt sich fuer einen Monatslohn von 200 Euro abzurackern. Die Ungerechtigkeit, dass der Ort an welchem man geboren wird zu einem Grossteil mitbestimmt wie schwierig, oder einfach es fuer diesen Menschen im Leben wird, hat mich wieder einmal bewegt. Ich wusste, koennte ich eines dieser Kinder mit nach Deutschland nehmen, wuerde sie/er bei meinen Eltern aufwachsen, koennten sie ihre Talente viel leichter ausbilden und in ihrem Leben einsetzten. 

Sonja, Ole und ich setzten uns also zusammen und sprachen ueber die Talente und Faehigkeiten unserer Kinder, teilten uns jeweils zwei oder drei Kinder zu und versuchten mit ihnen gemeinsam Musikschulen zu finden um Gesangsunterricht zu nehmen, einen Englishkurs oder einen Teaterkurs zu finden. 

Mit Traenen in den Augen und Liebe im Herz verabschiedeten wir Sie daraufhin, gaben Ihnen unsere Kontaktdaten und wuenschten Ihnen ein erfuelltes Leben, aber ganz besonders viel Glueck.

Gleichsam verabschiedete wir uns in diesen letzten beidem Wochen von unserem Lebensumfeld in Sao Paulo, dass sich jeder von uns mit der Zeit aufgebaut hatte. 
Fuer mich gab es das vergangene Jahr sehr viele tiefe und praegende Begegnungen und ich habe Freunde gewonnen, die mich inspirieren und die ich sehr liebe. 
So ging es auch in diesem Zusammenhang ans Tschuess-Sagen - schon wieder nachdem dies schon letztes Jahr in Deutschland der Fall war. Fuer mich war dies aber nicht zerstoererisch traurig, sondern ich merkte, dass es im Leben nun weitergehen muss, dass ich gerne Studieren moechte, nach der praktischen Arbeit auch wieder Interesse an intellektuellem Lernen habe. Wichtiger jedoch war fuer mich ist das Gefuehl, dass die Menschen die ich kennenlernen durfte fuer immer Teil meines Lebenswegs sein werden und noch wichtiger, dass sie in der Welt in feiner Art und Weise wirken werden und dass sich andere mit ihnen austauschen und inspirien lassen. 


Gruesse vom Strand, 
Jonas


Sonntag, 19. August 2012

reisen.demétria

Kaum mit der zweiten Aufführung in Monte Azul fertig ging es für uns ans Bus packen, Essensliste schreiben, Eltern beruhigen und Kinder anschnallen. Und schon waren wir auf der Reise zu dem wunderbaren anthroposophischen Örtchen Demétria im Hinterland von Sao Paulo, wo wir unser Stück zwei mal in der Waldorschule Aitiara aufführen sollten. 
Die vier Tage wurden unvergesslich. Die Kinder spielten friedlich und glücklich in der Natur. Wir gingen mit Ihnen reiten, schwammen mit ihnen, obwohl viele von ihnen noch nie das Meer oder einen See gesehen hatten und besuchten einen eindrucksvollen Wasserfall. Unsere Favelakinder blühten in der Natur voll auf, spielten kreativ und glücklich mit Grass, Stock und Stein und die Stimmung war zum großen Teil ungewohnt friedlich und harmonisch - wir waren überglücklich. 
Besonders unsere letzte Aufführung war wunderschön und ein guter Abschluss für unsere Circusarbeit hier in Brasilien. 


Mittwoch, 8. August 2012

sonhos.se.tornam.realidade

Träume werden wahr!

Nach einer Generalprobe, welche mehr aus kleinen Schlägereien, Geschreie und Streit bestand und einer unserer acht Circuskinder nachhause gehen musste, haben die Kinder in den vergangenen zwei Tagen atemberaubende Aufführungen hingelegt und dabei nicht nur uns so beeindruckt, dass wir fast unfähig waren sie musikalisch zu begleiten, sondern das ganze Publikum verzaubert und mit in die Welt der Träume genommen...

In wenigen Stunden werden wir nun zu einer kleinen Reise ins Hinterland von Sao Paulo aufbrechen. Auf der sog. Demétria, einem wunderschönen anthroposophischen Stadtteil von Botucatu, werden wir zwei Aufführungen in der Waldorfschule Aitiara machen und mit den Kindern die Natur in der Umgebung genießen. 
Drückt uns also nochmal die Daumen für zwei weitere schöne Aufführungen und dass sich die Kinder auf dieser Reise benehmen und nicht der "große Streit" ausbricht. 

Grüsse aus einer bewegten Zeit, 
Jonas, Ole und Sonja 

Sonntag, 5. August 2012

hauptprobe.

Zwei Tage bis zur Aufführung "O pequeno Sonhador"! Für unsere acht Schüler, die dieses Spektakel auf die Bühne bringen wollen, scheint diese kurze Zeitspanne keine Kraft zu haben sie zu konzentrierter Arbeit, produktiver Zusammenarbeit zu motivieren. 
Seit Wochen bereiten Sonja, Ole und ich die Circusaufführung vor; planen von Handlungsrahmen, Geschichte, Nummern, Kostümen, Requisiten, Musik, Szenerie, Publikationen, und  vielen mehr alles mit Enthusiasmus und Freude. Nun sind wir drei, zwar nur knapp, aber doch gut vorbereitet. Unsere acht "Racker" jedoch kann man nicht so leicht motivieren, bzw. ihnen eine konzentrierte Arbeitsweise, die vor einer Aufführung notwendig ist zeigen und beibringen. Sie leben viel zu strak im Moment, ohne eine innere Planung für die nahe Zukunft aufzubauen, obwohl wir immer wieder versuchen die zeitnahe Aufführung in das Bewusstsein der Kinder zu locken. 
Gestern bei der Hauptprobe fehlten zwei der acht Kinder und in der Vorbereitungsphase jener vorletzten Probe begann sich zunächst der Hauptcharakter mit einem Mädchen zu prügeln, welches einen Schlag auf den Mund anbekam - der Mund blutete. Sie biss die Zähne zusammen und machte trotzdem die Probe. Dem "Täter" versuchten wir vergeblich dazu zu bewegen eine Entschuldigung abzugeben, er blieb ignorant und dickköpfig. 
Mit jener unbändigen Sturheit und Dickköpfigkeit haben wir jeden Tag zu tun. Die Kinder sind zwischen sieben und vierzehn Jahre alte, lassen sich aber von uns praktisch kaum noch etwas sagen. Respektlos ignorieren sie oftmals unsere Aufforderungen und Bitten und nur mit unbändiger Geduld gelingt es hin und wieder den Unterricht auf unsere Art zu gestalten, Konflikte auf der verbalen Ebene zu lösen und ein einigermaßen pazifistische und aufbauende Arbeitsweise mit ihnen zu etablieren. 
Ein guter Freund und Pädagoge sagte mir vor eineigen Tagen sehr zutreffend: "Die Kinder verbringen einige Stunden mit euch in der Woche, in welchen ihr Ihnen ein friedvolles Miteinander vorlebt und impulsiert, doch den Rest der 24 Stunden am Tag erleben sie Streit  und dies schon ihr Leben lang." Wir erwarten von den Kindern sehr viel, wir erwarten, dass sich die Kinder so verhalten, wie wir es uns aus unserem sozialen Umfeld in Deutschland erwünschen würden. Hier treffen zudem zwei ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander und zudem zwei unterschiedliche soziale Schichten. Die Kinder können sich nicht so schnell an uns anpassen, besonders weil sie aus der Stunde herausgehen und jeglicher Konflikt sofort wieder mit der Faust gelöst wird. 

Somit haben wir unendliche Geduld, schauen nach vorne, versuchen "Gutes" vorzuleben und freuen uns über viele kleine, aber dennoch wunderschöne Erfolge eines jeden Kindes. 

Der morgen ist wunderschön in Sao Paulo und ich mache mich auf den Weg 
zur Generalprobe; Geduld und Gelassenheit in meinem Gepäck. 
Wir geben unser Bestes!

Gruss, Jonas

Mittwoch, 25. Juli 2012

sonhos

... jeden Tag rückt das Spektakel näher... für uns das letzte, das grosse Spektakel!


Sonntag, 22. Juli 2012

Phantasie

Bilder um die Geschichte vom kleinen Träumer, der Geschichte des ersten Spektakels vom "Circo dos Sohos":

 Stimmungsverlauf der Geschichte (Ole)

 in der Welt der Träume (Sonja)

das Ende der Geschichte (Sonja)

Samstag, 21. Juli 2012

das Hocheinrad

lange, lange Zeit wohnte in unserm Circusräumchen ein Hocheinrad, unangetastet, traurig. Doch nun kam der Tage, an dem wir, ein Favelajunge und ich, den Augenblick ab Schopfe Pakten und befreiten das Hocheinrad aus seiner Kiste. Da begann nicht nur das Einrad zu glänzen, sondern auch die Augen des Jungen hörten nicht mehr auf zu strahlen. Es sollte gleich daran gehen der Giraffe auf die Beine zu helfen, doch da mussten wir feststellen das wir nicht alle Werkzeuge bei uns hatten, die nötig waren um dem Einrad die Beine zu stärken. Und so musste es doch noch einmal zurück in die Kiste, diesmal aber nur für die Zeit die wie rennend bis zu unserem Fahrradladen brauchten. Gleich darauf stand das Gefährt groß und prächtig vor uns. Jetzt galt es dieses Ding zu zähmen und zu reiten. Aber dies erwies sich weniger als Herausforderung denn als Freudentanz. Nachdem ich eine Runde im Kreis geritten war, tat es mir der Favelajunge nicht nur gleich, sondern nahm auch noch den steilen Hang hinunter in die Favela auf sich und erntete dafür großes Erstaunen und Beifall. Und so kam es, dass unser Hocheinrad nun viele kleine und große Reiter hat, die es lieben und "pflegen".

Das Märchen vom kleinen Träumer 1/2

Era uma vez... es war einmal ein kleiner junge, der hatte nichts außer dem Wenigen was er an seinem Leibe trug. Er lebte in einem kleinen Winkel einer Favela, ohne Eltern, ohne Freunde. Fast schien es, als wäre dieser Junge der ärmste Mensch auf Erden, doch da muss ich widersprechen, denn der Junge hatte seine Träume. Tag ein Tag aus saß er in seiner Ecke und träumte und träumte . Er träumte von einer großen bunten Blumenwiese auf der er mit seinen Freunden spielt. Er träumte von einem kleinen Häuschen mit einem Schornstein und roten Fensterläden, durch die man ihn mit seiner Mutter backen sehen kann. Er träumte von einem Mädchen so schön wie der Mond und so strahlend wie die Sonne mit der er Hand in Hand die Welt entdecken will. Er träumte von Freude und Trauer, von Liebe und Respekt, doch am aller meisten träumte er davon  die Welt zu verändern. 
Eines Tages, als die anderen Kinder der Favela sich wieder rauften und stritten, zogen plötzlich dunkle Wolken auf und es begann wie aus Kübeln zu schütten. Schnell flüchteten sich die gerade noch zankenden Kinder in ihre Häuschen, der kleine junge aber, der gerade davon träumte, wie er mit all diesen Kindern eine große schöne Pyramide aus Menschen baut, musste draußen im Regen bleiben. Da geschah es, dass sich die Wolken plötzlich auftaten und sich ein großer strahlender Regenbogen aus den Wolken hinab tat, direkt vor die Füße des Jungen. Als der Junge aufstand meinte er plötzlich leise liebliche Musik zu vernehmen die von dem Regenbogen zu kommen schien. Langsam setzte er einen Fuß auf die lichten Farben des Regenbogen und dann noch einen und noch einen. Mit jedem Schritt stieg der Junge höher hinauf. Den sehnsüchtigen Klängen folgend merkte er nicht, wie bald seine kleine Favela unter ihm verschwunden war und die Farben um ihn her immer heller und strahlender wurden. Bald konnte er fröhlich lachende Stimmen vernehmen und auch ein lieblicher Geruch von frischem Gebäck und Freude schien ihn mit jedem Schritt mehr zu umgeben. 
Und da sah er es plötzlich, eine weite Bunte Blumenwiese mit spielenden und lachenden Kindern. Er sah auch ein kleines Häuschen mit einem Schornstein und roten Fensterläden durch die er einen kleinen Jungen mit seiner Mutter Plätzchen backen sah. Er sah Freude und Trauer, Liebe und Respekt, doch dann erblickte er plötzlich das Mädchen. Als es auf ihn zu kam, da erschien es ihm als sei sie noch viel schöner als der Mond und so strahlend, als sei sie der Sonne Kind. Das Mädchen aber ergriff seine Hand und nahm ihn mit auf eine lang lange reise...



euer euch liebender Ole

hoch.tief.weiter.

Seit Anfang Juli bereiten wir uns mit den Kindern gezielt auf die geplante Aufführung im August vor. Da die Kinder momentan Ferien haben, nutzen wir nun immer die frühen Morgenstunden bis zum Mittag für die Erarbeitung unseres Spektakels. Die "Aula" beginnt um 8:00 Uhr. Im Kreis klatschen wir einen Rhythmus und singen ein Morgenlied, dann umarmen wir uns alle, wünschen einen guten Morgen und gehen zum gemeinsamen Frühstück. Anschließend beginnt das Training und die verschiedenen Aktivitäten und um 11:15 gehen wir Mittagessen. Auch wenn nicht immer alle Kinder ganz pünktlich sind und wir dann in die Häuser gehen müssen um sie zu wecken, bin ich sehr froh um die Veränderung der "Arbeits"-Zeit. Vorvorletzte Woche hatten wir jeden Tag wunderschönes Wetter und es war eine große Freude mit den Kindern in der Sonne zu sein und Circusstunde zu machen. Außerdem sind die Kinder am Morgen aufmerksamer und ruhiger, was sich allgemein positiv auf das Training auswirkt. In Hinblick auf die nahende Aufführung haben wir damit begonnen Theaterübungen zu machen, die den Kindern immer großen Spaß machen. Desweiteren haben wir Ideen gesammelt für eine Geschichte, die der Rahmen unseres Programmes sein soll und wir haben angefangen den Text für unser eigenes Circuslied zu schreiben. 
Während der letzten beiden Wochen hatten wir allerdings auch mit einigen Herausforderungen zu kämpfen. Manche Kinder kamen an einigen Tagen nicht zur "Aula" oder waren verreist ohne uns bescheid zu sagen... einmal waren wir nur zu viert in der Stunde, darunter zwei Trainer. Es gab leider auch recht viel Streit und Unstimmigkeiten unter den Kindern in der Gruppe. Es wurde sich geärgert und beleidigt, so dass ein Mädchen schon meinte sie komme nicht mehr zum Circus, weil die Jungen sie nicht in Ruhe lassen. Drei unserer Schüler sind schon etwas älter (12) als die anderen, die in der Regel noch unter 10 Jahre alt sind und manchmal können sie nicht einschätzen wo die Grenzen sind und sehen nicht ein, dass man als älterer Rücksicht nehmen und seine Kräfte kontrollieren muss. Diese kleinen Kämpfe und Streitereien halten uns immer wieder auf und wir verlieren Zeit, die wir schöner nutzen könnten, sie zeigen jedoch auch, an welchem Punkt noch gelernt werden muss, nicht nur in Bezug auf das Verhalten der Kinder, sondern auch in Bezug auf die Art und Weise unserer Arbeit. Es liegt an uns wie die Kinder in der Stunde mitmachen und sich untereinander verhalten. Wir können Streit verhindern, indem wir die richtigen Mittel anwenden, indem wir selber die richige Stimmung ausstrahlen und Freude verbreiten. Das ist in manchen Situationen eine echte Herausforderung, aber wir und die Kinder verbessern uns von Mal zu Mal. 
Mittlerweile ist das Datum der Aufführung schon in greifbarer Nähe und die organisatorischen Arbeiten häufen sich. Der Text des Circusliedes muss noch fertiggestellt werden, außerdem wollen wir ein Logo für unseren Circus kreieren und beides noch vor der Aufführung. Desweiteren sind wir dabei den genauen Ablauf und die einzelnen Nummern des Programms zu erdenken, das Bühnenbild zu gestalten, Plakate zu entwerfen, Musiken auszusuchen und zu lernen etc. Der Traum von einer kleinen Tournee mit den Kindern, scheint nach langer Ungewissheit nun endlich doch in Erfüllung gehen zu können. Von der Associacao aus dürfen wir die Reise mit den Kindern nur machen, wenn uns eine bei Monte Azul angestellte Person begleitet und die Verantwortung mitträgt. Nach der erfolglosen Suche einer solchen Person haben wir endlich jemanden gefunden, der uns unterstützen wird und damit den ersten großen Schritt getan. Die folgenden Schritte sind die Organisation der Aufführungsorte, der Transport, die Verpflegung, die Unterbringung... es gibt viel zu tun und außerdem ja auch noch das Training mit den Kindern und Sonderproben mit denjenigen, die die schauspielerischen Parts der Geschichte übernehmen werden. Fast alle Gedanken drehen sich jetzt nur noch um die Aufführung und um alles, was dafür noch getan werden muss. Daneben ist wenig Platz für Gedanken über die Kürze der verbleibenden Zeit in Brasilien und Reflektion. In den Köpfen der Kinder merke ich, wie unser Programm langsam greifbarer wird. Alle Aspekte, die Umsetzung der Geschichte verbunden mit den Elementen des Circus, das alles ist für sie ganz neu und unbekannt. Den Freiraum zur Selbstgestaltung, den wir ihnen geben wollen, wissen sie oft gar nicht zu nutzen, deswegen versuchen wir doch auch schon festere Pläne und Vorgaben zu machen, die ihnen Sicherheit geben sollen. 
Es sind noch zwei Wochen bis zur geplanten Premiere und noch viele Schritte müssen getan werden, aber ich bin voller Zuversicht und Freude in Hinblick auf die gemeinsame Zeit und den Prozess hin zur Aufführung. 


Ich grüße Euch alle von Herzen,
Eure Sonja



Mittwoch, 13. Juni 2012

portrait.

Einer unserer treusten und wie man sieht freudigsten Schüler während einer "Aula". 

circo.dos.sonhos

Seit einigen Wochen sind wir sind wir in dem Findungsprozess eines wirklichen Namen für unser Circusprojekt hier in Sao Paulo. Unserer Kinder trugen Namen zusammen, von welchen "Circo da Esperanca" - Circus der Hoffnung - und "Circo dos Sonhos" - Circus der Träume - in die nähere Auswahl kamen. Gestern entschieden wir uns in gemeinsamer Abstimmung mit den Kindern für den "Circus der Träume". 
Sonja, Ole und ich sind sehr glücklich mit dem Namen, da er uns einerseits an fantastische, aufregende andere Welten denken lässt, aber auch den Aspekt der persönlichen, inneren Träume in sich birgt - der Träume die man für sein Leben hat. 

Grüsse aus dem Winter in Sao Paulo, 
Jonas


Freitag, 1. Juni 2012

momo.zeitgeben

Ich laß "Momo" von Michael Ende und mir würde deutlich, dass wir unseren Kindern "Zeit in einer immer graueren Stadt" schenken: Zeit um kreativ zu sein, Zeit um sich selbst kennenzulernen, Zeit um mit anderen gemeinsam künstlerisch tätig zu werden...., 
Zeit um zu leben.  
Unten anstehend findet ihr einen Auszug dieses wundervollen Buches. Bewegend und brandaktuell empfand ich besonders dieses Kapitel. 

Michael Ende: Momo. 
K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 2002
Sechstes Kapitel
Die Rechnung ist falsch und geht doch auf
"Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.
Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf so, wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne.Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne dass jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende selbst etwas davon ahnte. Sie warteten nur den richtigen Augenblick ab, in dem sie ihn fassen konnten. Und sie taten das Ihre dazu, dass dieser Augenblick eintrat.Da war zum Beispiel Herr Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war klein und er beschäftigte einen Lehrjungen.Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte, es war ein grauer Tag und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter.«Mein Leben geht so dahin», dachte er, «mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.»Es war nun durchaus nicht so, dass Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte es sogar sehr den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinander zu setzen und von ihnen zu hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ausgesprochenes Vergnügen und er wusste, dass er sie gut machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner über. Aber es gibt eben manchmal Augenblicke, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht jedem so.«Mein ganzes Leben ist verfehlt», dachte Herr Fusi. «Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!»Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgendetwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah.«Aber», dachte er missmutig, «für so etwas lässt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muss man Zeit haben. Man muss frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum.»In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.Herr Fusi schloss die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.«Womit kann ich dienen?», fragte er verwirrt. «Rasieren oder Haare schneiden?», und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze.«Keines von beidem», sagte der graue Herr ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme. «Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, dass Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.»«Das ist mir neu», erklärte Herr Fusi noch verwirrter: «Offen gestanden, ich wusste bisher nicht einmal, dass es ein solches Institut überhaupt gibt.»«Nun, jetzt wissen Sie es», antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort: «Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?»«Ganz recht, der bin ich», versetzte Herr Fusi.«Dann bin ich an der rechten Stelle», meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu. «Sie sind Anwärter bei uns.»«Wie das?», fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.«Sehen Sie, lieber Herr Fusi», sagte der Agent, «Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich Recht?»«Darüber habe ich eben nachgedacht», murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.«Na, sehen Sie!», erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. «Aber woher nimmt man Zeit? Man muss sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?»«Gewiss», sagte Herr Fusi.Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben.«Sechzig mal sechzig ist dreitausendsechshundert. Also hat eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden.Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vierundzwanzig, das macht sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag. Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin einunddreißigmillionenfünfhundertundsechsunddreißigtausend Sekunden pro Jahr.Oder dreihundertfünfzehnmillionendreihundert­undsechzigtausend Sekunden in zehn Jahren.Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?» «Nun», stotterte Herr Fusi verwirrt, «ich hoffe so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.»«Gut», fuhr der graue Herr fort, «nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre an.Das wäre also dreihundertfünfzehnmillionen­dreihundertsechzigtausend mal sieben. Das ergibt zweimilliardenzweihundertsiebenmillionenfünfhundertzwanzigtausend Sekunden.»Und er schrieb diese Zahl groß an den Spiegel:2 207 520 000 SekundenDann unterstrich er sie mehrmals und erklärte: «Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zur Verfügung steht.»Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Summe machte ihn schwindelig. Er hätte nie gedacht, dass er so reich sei.«Ja», sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, «es ist eine eindrucksvolle Zahl, nicht wahr? Aber nun wollen wir weitersehen. Wie alt sind Sie, Herr Fusi?» «Zweiundvierzig», stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewusst, als habe er eine Unterschlagung begangen.«Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?», forschte der graue Herr weiter.«Acht Stunden etwa», gestand Herr Fusi.Der Agent rechnete blitzgeschwind. Der Stift kreischte über das Spiegelglas, dass sich Herrn Fusi die Haut kräuselte.«Zweiundvierzig Jahre – täglich acht Stunden – das macht also bereits vierhunderteinundvierzigmillionenfünfhundertundviertausend. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als verloren betrachten. Wie viel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern, Herr Fusi?»«Auch acht Stunden, so ungefähr», gab Herr Fusi kleinlaut zu.«Dann müssen wir also noch einmal die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen», fuhr der Agent unerbittlich fort. «Nun kommt Ihnen aber auch noch eine gewisse Zeit abhanden durch die Notwendigkeit sich zu ernähren. Wie viel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahlzeiten des Tages?»«Ich weiß nicht genau», meinte Herr Fusi ängstlich, «vielleicht zwei Stunden?»«Das scheint mir zu wenig», sagte der Agent, «aber nehmen wir es einmal an, dann ergibt es in zweiundvierzig Jahren den Betrag von hundertzehnmillionendreihundertsechsundsiebzigtausend. Fahren wir fort! Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum noch hört.Es ist also hinausgeworfene Zeit: macht fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend. Ferner haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend.»«Aber...», warf Herr Fusi flehend ein.«Unterbrechen Sie mich nicht!», herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und schneller rechnete. «Da ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der Hausarbeit selbst machen. Sie müssen einkaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr. Wie viel Zeit kostet Sie das täglich?»«Vielleicht eine Stunde, aber...»«Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren, Herr Fusi. Wir wissen ferner, dass Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot und zwar etwa drei Stunden täglich, das macht einhundertfünfundsechzigmillionenfünfhundertvierundsechzigtausend. – Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi?»«Nein», antwortete Herr Fusi, «entschuldigen Sie bitte...»«Wir sind gleich zu Ende», sagte der graue Herr. «Aber wir müssen noch auf ein besonderes Kapitel Ihres Lebens zu sprechen kommen. Sie haben da nämlich dieses kleine Geheimnis, Sie wissen schon.»Herr Fusi begann mit den Zähnen zu klappern, so kalt war ihm geworden.«Das wissen Sie auch?», murmelte er kraftlos. «Ich dachte, außer mir und Fräulein Daria ...»«In unserer modernen Welt», unterbrach ihn der Agent Nr. XYQ/384/b, «haben Geheimnisse nichts mehr verloren. Betrachten Sie die Dinge einmal sachlich und realistisch, Herr Fusi. Beantworten Sie mir eine Frage: Wollen Sie Fräulein Daria heiraten?»«Nein», sagte Herr Fusi, «das geht doch nicht ...»«Ganz recht», fuhr der graue Herr fort, «denn Fräulein Daria wird ihr Leben lang an den Rollstuhl gefesselt bleiben, weil ihre Beine verkrüppelt sind. Trotzdem besuchen Sie sie täglich eine halbe Stunde, um ihr eine Blume zu bringen. Wozu?»«Sie freut sich doch immer so», antwortete Herr Fusi, den Tränen nah. «Aber nüchtern betrachtet», versetzte der Agent, «ist sie für Sie, Herr Fusi, verlorene Zeit. Und zwar insgesamt bereits siebenundzwanzigmillionenfünfhundertvierundneunzigtausend Sekunden. Und wenn wir nun dazurechnen, dass Sie die Gewohnheit haben, jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Viertelstunde am Fenster zu sitzen und über den vergangenen Tag nachzudenken, dann bekommen wir nochmals eine abzuschreibende Summe von dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend. Nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen eigentlich übrig bleibt, Herr Fusi.»Auf dem Spiegel stand nun folgende Rechnung:
Schlaf
441 504 000
Sekunden
Arbeit
441 504 000
˝
Nahrung
110 376 000
˝
Mutter
55 188 000
˝
Wellensittich
13 797 000
˝
Einkauf usw.
55 188 000
˝
Freunde, Singen usw.
165 564 000
˝
Geheimnis
27 594 000
˝
Fenster
1 3797 000
˝
Zusammen:
1 324 512 000
Sekunden
«Diese Summe», sagte der graue Herr und tippte mit dem Stift mehrmals so hart gegen den Spiegel, dass es wie Revolverschüsse klang, «diese Summe also ist die Zeit, die Sie bis jetzt bereits verloren haben. Was sagen Sie dazu, Herr Fusi?»
Herr Fusi sagte gar nichts. Er setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, denn trotz der eisigen Kälte brach ihm der Schweiß aus.Der graue Herr nickte ernst.«Ja, Sie sehen ganz recht», sagte er, «es ist bereits mehr als die Hälfte Ihres ursprünglichen Gesamtvermögens, Herr Fusi. Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. Ein Jahr, das sind einunddreißigmillionenfünfhundertsechsunddreißigtausend Sekunden, wie Sie wissen. Und das mal zweiundvierzig genommen macht einemilliardedreihundertvierundzwanzigmillionenfünfhundertundzwölftausend.»Er schrieb die Zahl unter die Summe der verlorenen Zeit:_ 1 324 512 000 Sekunden   1 324 512 000     ˝   0 000 000 000 SekundenEr steckte seinen Stift ein und machte eine längere Pause, um den Anblick der vielen Nullen auf Herrn Fusi wirken zu lassen.Und er tat seine Wirkung.Das, dachte Herr Fusi zerschmettert, ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen Lebens.Er war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, dass er alles widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen.«Finden Sie nicht», ergriff nun der Agent Nr. XYQ/384/b in sanftem Ton wieder das Wort, «dass Sie so nicht weiterwirtschaften können, Herr Fusi? Wollen Sie nicht lieber zu sparen anfangen?»Herr Fusi nickte stumm und mit blau gefrorenen Lippen.«Hätten Sie beispielsweise», klang die aschenfarbene Stimme des Agenten an Herrn Fusis Ohr, «schon vor zwanzig Jahren angefangen täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen Sie jetzt ein Guthaben von sechsundzwanzigmillionenzweihundertundachtzigtausend Sekunden. Bei zwei Stunden täglich ersparter Zeit wäre es natürlich das Doppelte, also zweiundfünfzigmillionenfünfhundertundsechzigtausend. Und ich bitte Sie, Herr Fusi, was sind schon zwei lumpige kleine Stunden angesichts einer solchen Summe?»«Nichts», rief Herr Fusi, «eine lächerliche Kleinigkeit!»«Es freut mich, dass Sie das einsehen», fuhr der Agent gleichmütig fort. «Und wenn wir nun noch ausrechnen, was Sie unter denselben Bedingungen in weiteren zwanzig Jahren erspart haben würden, so kämen wir auf die stolze Summe von einhundertfünfmillioneneinhundertundzwanzigtausend Sekunden. Dieses ganze Kapital stünde Ihnen in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr zur freien Verfügung.»«Großartig!», stammelte Herr Fusi und riss die Augen auf.«Warten Sie ab», fuhr der graue Herr fort, «denn es kommt noch viel besser. Wir, das heißt die Zeit-Spar-Kasse, bewahren nämlich die eingesparte Zeit nicht nur für Sie auf, sondern wir zahlen Ihnen auch noch Zinsen dafür. Das heißt, Sie hätten in Wirklichkeit noch viel mehr.»«Wie viel mehr?», fragte Herr Fusi atemlos.«Das läge ganz bei Ihnen», erklärte der Agent, «je nachdem, wie viel Sie eben einsparen würden und wie lange Sie das Ersparte bei uns liegen lassen.»«Liegen lassen?», erkundigte sich Herr Fusi. «Was heißt das?»«Nun, ganz einfach», meinte der graue Herr. «Wenn Sie Ihre ersparte Zeit nicht vor fünf Jahren von uns zurückverlangen, dann bezahlen wir Ihnen noch einmal dieselbe Summe dazu. Ihr Vermögen verdoppelt sich alle fünf Jahre, verstehen Sie? Nach zehn Jahren wäre es bereits das Vierfache der ursprünglichen Summe, nach fünfzehn Jahren das Achtfache und so weiter. Wenn Sie vor zwanzig Jahren angefangen hätten, täglich nur zwei Stunden einzusparen, dann stünde für Sie in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr, also nach vierzig Jahren insgesamt, das Zweihundertsechsundfünfzigfache der bis dahin von Ihnen ersparten Zeit zur Verfügung. Das wären sechsundzwanzigmilliardenneunhundertundzehnmillionensiebenhundertundzwanzigtausend.»Und er nahm noch einmal seinen grauen Stift heraus und schrieb auch diese Zahl an den Spiegel: 26 910 720 000 Sekunden.«Sie sehen selbst, Herr Fusi», sagte er dann und lächelte zum ersten Mal dünn, «es wäre mehr als das Zehnfache Ihrer ursprünglichen gesamten Lebenszeit. Und das bei nur zwei ersparten Stunden täglich. Bedenken Sie, ob dies nicht ein lohnendes Angebot ist.»«Das ist es!», sagte Herr Fusi erschöpft. «Das ist es ganz ohne Zweifel! Ich bin ein Unglücksrabe, dass ich nicht schon längst angefangen habe zu sparen. Jetzt erst sehe ich es völlig ein und ich muss gestehen – ich bin verzweifelt!»«Dazu», erwiderte der graue Herr sanft, «besteht durchaus kein Grund. Es ist niemals zu spät. Wenn Sie wollen, können Sie noch heute anfangen. Sie werden sehen, es lohnt sich.»«Und ob ich will!», rief Herr Fusi. «Was muss ich tun?»«Aber, mein Bester», antwortete der Agent und zog die Augenbrauen hoch, «Sie werden doch wissen, wie man Zeit spart! Sie müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei Ihrer alten Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird, dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab! Besuchen Sie Fräulein Daria nur noch alle vierzehn Tage einmal, wenn es überhaupt sein muss. Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem, vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren sogenannten Freunden. Ich empfehle Ihnen übrigens ganz nebenbei, eine große, gut gehende Uhr in ihren Laden zu hängen, damit Sie die Arbeit Ihres Lehrjungen genau kontrollieren können.»«Nun gut», meinte Herr Fusi, «das alles kann ich tun, aber die Zeit, die mir auf diese Weise übrig bleibt – was soll ich mit ihr machen? Muss ich sie abliefern? Und wo? Oder soll ich sie aufbewahren? Wie geht das Ganze vor sich?»
«Darüber», sagte der graue Herr und lächelte zum zweiten Mal dünn, «machen Sie sich nur keine Sorgen. Das überlassen Sie ruhig uns. Sie können sicher sein, dass uns von Ihrer eingesparten Zeit nicht das kleinste bisschen verloren geht. Sie werden es schon merken, dass Ihnen nichts übrig bleibt.»
«Also gut», entgegnete Herr Fusi verdattert, «ich verlasse mich also darauf.»«Tun Sie das getrost, mein Bester», sagte der Agent und stand auf. «Ich darf Sie also hiermit in der großen Gemeinde der Zeit-Sparer als neues Mitglied begrüßen. Nun sind auch Sie ein wahrhaft moderner und fortschrittlicher Mensch, Herr Fusi. Ich beglückwünsche Sie!»Damit nahm er seinen Hut und seine Mappe.«Einen Augenblick noch!», rief Herr Fusi. «Müssen wir denn nicht irgendeinen Vertrag abschließen? Muss ich nichts unterschreiben? Bekomme ich nicht irgendein Dokument?»Der Agent Nr. XYQ/384/b drehte sich in der Tür um und musterte Herrn Fusi mit leichtem Unwillen. «Wozu?», fragte er. «Das Zeit-Sparen lässt sich nicht mit irgendeiner anderen Art des Sparens vergleichen. Es ist eine Sache des vollkommenen Vertrauens – auf beiden Seiten! Uns genügt Ihre Zusage. Sie ist unwiderruflich. Und wir kümmern uns um Ihre Ersparnisse. Wie viel Sie allerdings ersparen, das liegt ganz bei Ihnen. Wir zwingen Sie zu nichts. Leben Sie wohl, Herr Fusi!» Damit stieg der Agent in sein elegantes, graues Auto und brauste davon.Herr Fusi sah ihm nach und rieb sich die Stirn. Langsam wurde ihm wieder wärmer, aber er fühlte sich krank und elend. Der blaue Dunst aus der kleinen Zigarre des Agenten hing noch lange in dichten Schwaden im Raum und wollte nicht weichen.Erst als der Rauch vergangen war, wurde es Herrn Fusi wieder besser. Aber im gleichen Maß wie der Rauch verging, verblassten auch die Zahlen auf dem Spiegel. Und als sie schließlich ganz verschwunden waren, war auch die Erinnerung an den grauen Besucher in Herrn Fusis Gedächtnis ausgelöscht – die an den Besucher, nicht aber die an den Beschluss! Den hielt er nun für seinen eigenen. Der Vorsatz, von nun an Zeit zu sparen, um irgendwann in der Zukunft ein anderes Leben beginnen zu können, saß in seiner Seele fest wie ein Stachel mit Widerhaken.Und dann kam der erste Kunde an diesem Tag. Herr Fusi bediente ihn mürrisch, er ließ alles Überflüssige weg, schwieg und war tatsächlich statt in einer halben Stunde schon nach zwanzig Minuten fertig.Und genauso hielt er es von nun an bei jedem Kunden. Seine Arbeit machte ihm auf diese Weise überhaupt keinen Spaß mehr, aber das war ja nun auch nicht mehr wichtig. Er stellte zusätzlich zu seinem Lehrjungen noch zwei weitere Gehilfen ein und gab scharf darauf Acht, dass sie keine Sekunde verloren. Jeder Handgriff war nach einem genauen Zeitplan festgelegt. In Herrn Fusis Laden hing nun ein Schild mit der Aufschrift: GESPARTE ZEIT IST DOPPELTE ZEIT!An Fräulein Daria schrieb er einen kurzen, sachlichen Brief, dass er wegen Zeitmangels leider nicht mehr kommen könne. Seinen Wellensittich verkaufte er einer Tierhandlung. Seine Mutter steckte er in ein gutes, aber billiges Altersheim und besuchte sie dort einmal im Monat. Und auch sonst befolgte er alle Ratschläge des grauen Herrn, die er ja nun für seine eigenen Beschlüsse hielt.Er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam: Von all der Zeit, die er einsparte, blieb ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte Weise und war nicht mehr da. Seine Tage wurden erst unmerklich, dann aber deutlich spürbar kürzer und kürzer. Ehe er sich’s versah, war schon wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr herum und noch ein Jahr und noch eines.Da er sich ja an den Besuch des grauen Herrn nicht mehr erinnerte, hätte er sich wohl eigentlich ernstlich fragen müssen, wo all seine Zeit denn blieb. Aber diese Frage stellte er sich sowenig wie alle anderen Zeit-Sparer. Es war etwas wie eine blinde Besessenheit über ihn gekommen. Und wenn er manchmal mit Schrecken gewahr wurde, wie schnell und immer schneller seine Tage dahinrasten, dann sparte er nur umso verbissener.Wie Herrn Fusi, so ging es schon vielen Menschen in der großen Stadt. Und täglich wurden es mehr, die damit anfingen, das zu tun, was sie «Zeit sparen» nannten. Und je mehr es wurden, desto mehr folgten nach, denn auch denen, die eigentlich nicht wollten, blieb gar nichts anderes übrig als mitzumachen.Täglich wurden im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen die Vorteile neuer zeitsparender Einrichtungen erklärt und gepriesen, die den Menschen dereinst die Freiheit für das «richtige» Leben schenken würden. An Hauswänden und Anschlagsäulen klebten Plakate, auf denen man alle möglichen Bilder des Glücks sah. Darunter stand in leuchtenden Lettern:ZEIT-SPARERN GEHT ES IMMER BESSER! Oder: ZEIT-SPARERN GEHÖRT DIE ZUKUNFT!Oder: MACH MEHR AUS DEINEM LEBEN – SPARE ZEIT!Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Zwar waren die Zeit-Sparer besser gekleidet als die Leute, die in der Nähe des alten Amphitheaters wohnten. Sie verdienten mehr Geld und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten missmutige, müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen. Bei ihnen war die Redensart «Geh doch zu Momo!» natürlich unbekannt. Sie hatten niemand, der ihnen so zuhören konnte, dass sie davon gescheit, versöhnlich oder gar froh geworden wären. Aber selbst wenn es dort so jemand gegeben hätte, es wäre doch höchst zweifelhaft gewesen, ob sie je zu ihm hingegangen wären – es sei denn, man hätte die Sache in fünf Minuten erledigen können. Andernfalls hätten sie es für verlorene Zeit gehalten. Selbst ihre freien Stunden mussten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war.So konnten sie keine richtigen Feste mehr feiern, weder fröhliche noch ernste. Träumen galt bei ihnen fast als ein Verbrechen. Am allerwenigsten aber konnten sie die Stille ertragen. Denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah. Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte. Aber es war natürlich kein fröhlicher Lärm wie der auf einem Kinderspielplatz, sondern ein wütender und missmutiger, der die große Stadt von Tag zu Tag lauter erfüllte.Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig – im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete.Über allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern hingen deshalb Schilder, auf denen stand:ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT!Oder: ZEIT IST (WIE) GELD – DARUM SPARE!Ähnliche Schilder hingen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Geschäften, Restaurants und Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kindergärten. Niemand war davon ausgenommen.Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. Man sparte sich die Mühe die Häuser so zu bauen, dass sie zu den Menschen passten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem zeitsparender, die Häuser alle gleich zu bauen. Im Norden der großen Stadt breiteten sich schon riesige Neubauviertel aus. Dort erhoben sich in endlosen Reihen vielstöckige Mietskasernen, die einander so gleich waren wie ein Ei dem anderen. Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont – eine Wüste der Ordnung! Und genau so verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten: schnurgerade bis zum Horizont! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick.Niemand schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie."

blogarchiv